Der Schriftsteller Péter Esterházy über Ungarns Premier Viktor Orbán, die Bauchgefühle der Bürger und die Freiheit der Kunst
…Wie erklären Sie sich Orbáns seltsamen Werdegang, vom liberalen Gegner der Kommunisten vor 25 Jahren zum rechtspopulistischen Premier von heute?
Ende der 80er Jahre war Orbán ein sympathischer junger Wilder, ein dynamischer Typ, der große Hoffnungen weckte. Sein Wandel begann Ende 1993, mit dem Tod József Antalls, des ersten ungarischen Ministerpräsidenten nach dem Kommunismus. Orbán erkannte, dass in der politischen Landschaft Ungarns eine moderne rechte Partei fehlte. Das wäre nicht weiter schlimm, wenn er, um diese Lücke zu füllen, eine konservative oder liberale Partei nach westlichem Muster gebildet hätte. Doch stattdessen hat er eine populistische Bewegung aufgebaut. Er schmeichelt unseren Instinkten, unserem alten Reflex, uns als Opfer zu sehen. Wir ergehen uns gerne in Selbstmitleid, und Orbán bestärkt uns darin. Seine Strategie ist immer die gleiche, ob er nun mit der Wiedereinführung der Todesstrafe liebäugelt oder seine Fragebogenaktion gegen Flüchtlinge startet. Anstatt Verantwortung zu übernehmen, zielt er auf das Bauchgefühl der Ungarn ab und schürt ihre Ängste. Orbán ist kein Staatsmann.
Wenn er Ihnen jetzt gegenübersäße, was würden Sie ihm sagen?
Gar nichts. Denn um miteinander zu reden, braucht man eine gemeinsame Basis, eine gemeinsame Sprache. Die haben wir nicht mehr. Wir wären wie zwei alte Fußballer am Morgen nach einem Besäufnis: Vor langer Zeit haben wir mal irgendetwas gemeinsam gehabt, aber das ist vorbei und vergessen – es bleibt nur der Kater.
…Ich habe den Eindruck, Ungarn hat sein grauenvolles 20. Jahrhundert noch längst nicht bewältigt: den Fall des Habsburgerreichs, die Räterepublik von Béla Kun, den Vertrag von Trianon, das Horthy-Regime, die nationalsozialistische Besatzung und dann bis 1989 die kommunistische Diktatur. Wie soll man mit so viel schmerzvoller Geschichte umgehen? Wird Ungarn irgendwann in der Lage sein, all das aufzuarbeiten?
Ich hoffe es, aber ich weiß es nicht. Bei uns ist die Geschichte eine zerstörerische Kraft. Wir berappeln uns, wir bauen auf, wir möchten Zutrauen fassen, aber dann schlägt sie wieder zu, als hätte sie eine boshafte Freude daran, uns übel mitzuspielen. Darum haben die Ungarn sich angewöhnt zu denken: Es könnte immer noch schlimmer kommen. Unsere Geschichte der letzten hundert Jahre ist sehr zerstückelt, eine Abfolge von Kriegen und Besetzungen, von Regimen aller Art, Kaiserreich, Königreich, rechte Diktatur, linke Diktatur, (Pseudo-)Demokratie. 1945 fing für die Ungarn ein neues Leben an. Das hat der Stalinismus 1948 wieder zunichtegemacht. Dann kam 1956 der Versuch eines Sozialismus mit menschlichem Antlitz, gefolgt vom sowjetischen Einmarsch … Tatsächlich haben wir noch nie Zeit gehabt, um uns mit unserer Geschichte und unserer Verantwortung in Ruhe auseinanderzusetzen. Deshalb ja auch Imre Kertész’ ironischer Dank an den Stalinismus, dass er ihn davor bewahrt habe, jeden Tag an Auschwitz denken zu müssen.
Aber seit 1989?
Seit 1989 haben wir es deshalb nicht getan, weil in Ungarn die Keller voller Leichen stecken. Unsere Erinnerungen sind ein unappetitliches Knäuel, Rechte wie Linke versuchen, ihre kompromittierende Vergangenheit unter Verschluss zu halten. Daran scheitert die Bewältigung bisher. Für eine echte Aufarbeitung braucht man viel Zeit, Jahrzehnte – das wissen Sie ja in Deutschland besser als alle anderen.
Gefunden in: freitag.de